Adventsandacht der Regionalbischöfin

4. Advent
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Die Geliebte wartet auf den Geliebten, die Sehnsucht ist groß. Angespannt und unruhig steht sie am Fenster. Da, endlich sieht sie ihn in der Ferne und kann es kaum er-warten, bis er endlich bei ihr ist. Wild hüpfend kommt er herbeigeeilt.
Und dann hört sie auch schon die verlockende Stimme ihres Freundes, er ruft sie nach draußen.

In der Basisbibel ist Hoheslied 2, 8-13 überschrieben mit „Frühlingsgefühle“:
Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon!
Er springt über die Berge, hüpft herbei über die Hügel.
Mein Liebster gleicht der Gazelle oder einem jungen Hirsch.
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter.
Mein Liebster redet mir zu:
»Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!
Denn der Winter ist vorüber, der Regen vorbei, er hat sich verzogen.
Blumen sprießen schon aus dem Boden, die Zeit des Frühlings ist gekommen.
Turteltauben hört man in unserem Land.
Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen.
Die Reben blühen, verströmen ihren Duft.
Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!

Wie wunderbar. Man hört das Kribbeln förmlich, das in den Zeilen mitschwingt.
Ihr Warten wird belohnt, die beiden Liebenden finden sich.
Was hat nun so ein Text im Advent zu suchen? Vielleicht wirken die frühlingshaften Bilder und die mitschwingende Erotik zunächst irritierend. Doch sie drücken das Warten, das den Advent eigentlich prägt, zutiefst eindrücklich aus.
Freude, Hoffnung und Lebenslust bersten förmlich aus den Zeilen. Ein lustvoller Advent?

Ein ganz anderes Warten erleben wir derzeit, fast ist es schon eine Art Dauerzustand, spätestens seit dem Beginn der weltweiten Pandemie. Während vorher meist die Richtung klar war, nämlich schneller – höher – weiter, scheint es derzeit so als sei zumindest die westliche Welt in Schockstarre verfallen.
Kollektives Warten – darauf, dass sich irgendwas ändert. Nur was?
Dieses Dauerwarten ist nebulös und unbestimmt. Da kann man eher ahnen, fürchten, fühlen. Und was am Ende dabei herauskommt, wissen wir nicht. Aber die Prognosen in Medien und Politik lassen Schwieriges ahnen, Viele fürchten sich vor der Zukunft und die Meisten fühlen sich machtlos.
Von einem lustvollen Advent fühlen sich Viele gerade sehr weit entfernt.

Doch was wäre, wenn - im Bild gesprochen - Gott an unsere Tür klopfen würde und uns herauslocken wollte? Wo würde er uns vorfinden?
In einer kalten Wohnung, weil wir Angst haben unsere Heizkosten nicht bezahlen zu können?
Genervt und gereizt, weil wir mit den immer schnelleren Veränderungen um uns herum nicht Schritt halten können?
Ängstlich, weil wir in vielen Medien von Untergangsszenarien umgeben sind?
Einsam, weil wir in der Pandemie verlernt haben, wie es ist mit vielen Menschen um einen herum?
Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!

Bei den Liebenden ist die Richtung klar:
Hier draußen ist es schon Frühling, hier blüht und sprießt alles, es ist warm und schön.
Frühling im kalten Advent.
Wir wissen nicht, was bei den Liebenden alles passiert ist, seit sie sich das letzte Mal gesehen haben. Ob sie aneinander gezweifelt haben, ob es ihnen immer gut gegangen ist. Wir dürfen nur teilhaben an der großartig warmherzigen Wiedersehensfreude. Diese Freude übertrifft alles, was vorher vielleicht passiert ist.

Wenn alles droht, einen zu überwältigen und man das Gefühl hat, nicht mehr zurecht zu kommen, hilft es oft, sich auf den Moment zu konzentrieren. Einzig und allein auf das Hier und Jetzt. Alles andere nicht zählen lassen. Wie die Liebenden. Sie nehmen nur noch ihre Freude aufeinander und aneinander wahr. Wie schmerzlich mitunter das Warten gewesen sein mag - in diesem Moment ist es völlig vergessen.
Frühling mitten im Advent.

Vielleicht brauchen wir gerade in diesem Jahr mehr solche kleinen Haltepunkte in den vielen Sorgen, die uns gefangen nehmen.
Nur wenn wir auch mal innehalten, können wir das „Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!“ überhaupt hören, können das, was um uns herum eventuell überraschend „frühlingshaft“ ist, überhaupt wahrnehmen.
Ich wünsche mir, dass wir uns zwischendurch immer wieder herausrufen lassen aus allen Sorgen und Anspannungen. Dass wir Gott die Chance geben, in unseren Herzen und Leben anzukommen.


Gebet
Du liebender Gott, gib uns die Kraft zum Innehalten.
Rufe uns heraus aus allem, was uns Sorgen macht.
Schenke uns Vorfreude und fülle unsere Herzen mit Deiner Liebe.
Amen.